WM 2023 Östersund
Das Privileg des Jongleurs
Nach fast dreijähriger berufs- und pandemiebedingter Wettkampfpause mischt Steffen Lehmker wieder mit. In Schweden plant er mit vier Einzelstarts.
Der Hauptteil des Teams Deutschland Para Ski nordisch ist am Dienstag von Frankfurt am Main aus über Stockholm nach Östersund in der schwedischen Region Jämtland gereist, wo am kommenden Samstag das erste Rennen der Weltmeisterschaft im Para Skilanglauf und Para Biathlon 2023 über die Bühne gehen wird. Steffen Lehmker war nicht im Flieger. Der für den WSV Clausthal-Zellerfeld startende Athlet, der am vergangenen Sonntag seinen 34. Geburtstag feierte, saß zur gleichen Zeit in einer Zeugniskonferenz der BBS 1 Lüneburg, an der er seit zwei Jahren als Berufsschullehrer für die Fächer Wirtschaft und Sport arbeitet.
Erst am Freitag wird sich Lehmker auf die Reise gen Norden machen, wenn die letzten beruflichen Pflichten erfüllt und der Kopf frei ist für die Wettkämpfe. Kommenden Dienstag, beim Langlauf-Sprint, will er das erste Mal auf die Loipe gehen, danach sind noch drei weitere Einzelstarts geplant. Diese Jonglage mit den Bällen des Berufsalltags und denen des Leistungssports beschreibt sehr treffend die Herausforderungen, mit denen sich der in Bad Bevensen im Landkreis Uelzen beheimatete Lehmker konfrontiert sieht
Sehnsucht Schnee
Früher war vieles einfacher. „Da konnte ich das Studium und den Alltag an den Sport anpassen“, sagt er. 2014 begann der frühere Fußballer und Marathonläufer, der von Geburt an eine Plexuslähmung am rechten Arm hat, mit Biathlon und Langlauf. Im Februar 2016 feierte er in Finsterau (Bayerischer Wald) sein Weltcup-Debüt, ein Jahr später folgte an selber Stelle die WM-Premiere. Inzwischen steht der Alltag in der Rangfolge notgedrungen vor dem Sport. Lehmker unterrichtet 18 Wochenstunden, etwa genauso viel Zeit investiert er in Vor- und Nachbereitung. Und daheim wartet die zweijährige Tochter. „Papa Arbeit“, sage die manchmal, wenn er sich zum Training umziehe, berichtet er lächelnd.
Vollzeit arbeiten, Zeit mit der Familie verbringen, der Leidenschaft Leistungssport frönen – das alles unter einen Hut zu bringen, ist komplex. „Es gibt Phasen, da komme ich mit dem, was ich mir vornehme, nicht hinterher.“ Zumal: Auf Schnee zu trainieren bedeutet für ihn als tief verwurzeltes Kind des Nordens die nächste Herausforderung. Das Para Ski nordisch-Bundesleistungszentrum im Schwarzwald ist knapp zehn Autostunden entfernt, die Skisporthalle im thüringischen Oberhof dreieinhalb – keine Distanzen für Tagesausflüge, geschweige denn fürs Feierabendtraining.
Statt mit Langlaufskiern sammelt Steffen Lehmker seine Trainingskilometer überwiegend mit Skirollern auf Asphalt. „Die Abläufe im Körper sind ähnlich. Wenn ich wieder auf Schnee bin, komme ich relativ gut rein in die Bewegung“, sagt er. Trotzdem bräuchten Sehnen und Bänder eine Weile für die Verarbeitung. Eins zu werden mit den Skiern und dem Untergrund, in ein wahrhaftiges Flow-Gefühl zu kommen, das klappt nicht von jetzt auf gleich. Umso mehr genoss Lehmker die Zeit beim Vorbereitungslehrgang in Toblach (Südtirol) Anfang des Jahres, nach dem der Bundestrainer Ralf Rombach feststellte: „Die Schneekilometer und die Komplexeinheiten haben Steffen gutgetan. Es lief bei ihm jeden Tag ein Stückchen besser.“ Allerdings: Aus dem Trainingslager musste Lehmker vorzeitig abreisen. Die Schulferien waren vorüber.
Der Geschmack sportlicher Emotionen
Aufgrund der beruflichen Belastung und weil pandemiebedingt viele Wettkämpfe ausfielen, pausierte Steffen Lehmker lange. Sein letzter Weltcup vor Corona war im Januar 2020 in Dresden, seine Rückkehr folgte erst im vergangenen Dezember im finnischen Vuokatti. Im Langlauf-Sprint wurde er Zwölfter und stellte fest, dass die Konkurrenz in seiner Abwesenheit nicht geschlafen hat. Zumal einige andere Nationen Profisportler ins Rennen schicken.
Diesen Umstand betont er zur Einordnung. Nicht – das ist ihm wichtig – um über ungleiche Bedingungen zu klagen. „Der Para Sport in Deutschland hätte mehr Beachtung verdient, damit die Menschen verstehen, wie viel Engagement hinter all dem steckt“, sagt er. „Aber ich bin dankbar für meine Lebensumstände, für die Förderungen und die Unterstützung.“ Der Behinderten-Sportverband Niedersachsen etwa verschaffte ihm ein Gewehr. „Es ist für mich ein Privileg, Biathlon machen zu können.“
Für die WM 2023 hat er sich vorgenommen, nach den Rennen mit sich selbst zufrieden zu sein. Weil er spürt, gezeigt zu haben, was in ihm steckt. Zudem hofft er, sich zum Abschluss der Wettkämpfe am 29. Januar einen Platz in der Staffel ergattern zu können. Mit ihr verbindet er das emotionalste Erlebnis seiner bisherigen Karriere. 2018 bei den Paralympics in PyeongChang (Südkorea) gewann er an der Seite von Andrea Eskau und Alexander Ehler (beide ebenfalls in Östersund dabei) Bronze im Mixed. „Unglaublich aufregend“ sei das gewesen. „Es kam für mich völlig unerwartet.“ Am Ende des Jahres wurde das Trio zur Para Mannschaft des Jahres gewählt. Und Steffen Lehmker wusste: Von diesen Momenten, die ihm der Leistungssport schenkt, will er noch mehr kosten. Komme was wolle.
Foto: vitifilms / Vuokattisport